Der Weisheit letzter Schluss

April 19, 2014

Lichtgeschwindigkeit 4314

am 19. April 2014

.

Das ist der Weisheit letzter Schluss:

Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,

Der täglich sie verdienen muss.

…“

aus J. W, Goethe, Faust Zweiter Teil, Fünfter Akt, Großer Vorhof des Palasts

.

Das Zitat – es spricht Faust mit Mephisto – steht in Zeile 11575 und geht weiter bis Zeile 11588:

Und so verbringt, umrungen von Gefahr,

Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.

Solch ein Gewimmel möcht‘ ich sehn,

Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.

Zum Augenblicke dürft‘ ich sagen:

Verweile doch, du bist so schön!

Es kann die Spur von meinen Erdentagen

Nicht in Äonen untergehn. –

Im Vorgefühl von solchem hohen Glück

Genieß‘ ich jetzt den Augenblick.

(Faust sinkt zurück, die Lemuren fassen ihn auf und legen ihn auf den Boden)

.

Mephistopheles (erwidert)

Ihn sättigt keine Lust, ihm g’nügt kein Glück,

So buhlt er fort nach wechselnden Gestalten;

den letzten, schlechten, leeren Augenblick,

Der Arme wünscht ihn festzuhalten.

…“

.

Bild

.

Dietmar Moews meint:

Beim vielfachsten Lesen des Faust, über Ostern, nachdem der Handlungsfaden bzw. die metaphysischen Dimensionen angeklungen und abgeklärt sind, erstaunt mich noch immer und erneut, das Goethes Faust nebenbei – oder in der Wirkung im Sprechen der Deutschen (die meist Faust gar nicht kennen) – eine reiche Sammlung von geflügelten Worten ist.

Und losgelöst von Goethes Bedeutungsspielen werden diese Kernsätze wie, Verweile doch, du bist so schön“, als Sprichworte und Volksweisheiten bzw. Losungen, Beschwörungen und Stoßgebete dahergesprochen, ohne dabei den Bedeutungszusammenhang, den Goethe im Faust vorgab, zu berücksichtigen.

.

So ist „Verweile doch, du bist so schön“ ein Satz, der gelegentlich als Floskel in der deutschen Sprachgewohnheit dahergesagt wird, wenn der Sprecher ausdrücken will, es sei ihm das Lebensgefühl gerade schön. Während in Goethes Faust-Dialog von „Grab graben“ und im Sinne von „Weisheit letzter Schluss“ die Aussage weniger auf „Weisheit“ des Faust liegt als auf „letzter Schluss“, der Erwiderung des Mephistopheles.

Wenn Goethe den Doktor Faust hier ausrufen lässt: Freiheit erobern! – dann ist das angesichts der das Grab grabenden Lemuren ein Ausruf: „Verweile doch, du bist so schön“, der ziemlich genau ungeeignet sein müsste, in besonders schönen Momenten davon Goethes Worte zu machen.

Wir sehen: Das kümmert niemand groß. Ob Goethe oder Flöte – wer vor Vergnügen quietscht, benutzt dazu Worte, wie er will.


Kitsch

März 3, 2014

Lichtgeschwindigkeit 4177

aus „Das Lexikon des Kunstwesens“

von Dietmar Moews

.

In der deutschen Sprache ist das Wort Kitsch ein Schimpfwort. Es dient der heiklen Bezeichnung von einfachen und billigen Gegenständen. Kitsch wird von den Kitschbenutzern ungeachtet seines materiellen Wertes geliebt und als Souvernirs, Nippes, Dekoration, Bric á Brac, Tand, Flitter und Erinnerungssymbole benutzt. Im symbolträchtigen Sprachalltag zielt der abwertende Gebrauch des Wortes Kitsch nicht auf die Beschaffenheit von Kitschgegenständen sondern als Aggression gegen die Kitschbenutzer.

.

Macht- und prestigebegehrliche Kitschablehner erkennen den ästhetischen Widerspruch, der zwischen der materiellen Geringwertigkeit von Kitschgegenständen und der hochrangigen Benutzung durch Kitschbenutzer besteht.

.

Vergissmeinnicht - Dietmar Moews fotografierte den Blumenfreund

Vergissmeinnicht – Dietmar Moews fotografierte den Blumenfreund

.

Kitsch bildet den klassischen sozialen Prestigekonflikt intrigant ab, der zwischen der sozio-politischen Rechten und der Linken, mit dem Kitsch als Dreieckspunkt, mitleidlos zum Ausdruck kommt.

.

Bild

Malerei von Dietmar Moews als Nachbildung des „Putto musicante“ von Fiorentino Rosso

.

Kitschgegenstände werden abwertend angesprochen. Doch handelt es sich um die sprachliche Behauptung einer elitären rechten Grundhaltung der Ausgrenzung gegen eine eher linke Ambition von „Wiederspiegelung“ ästhetischer Diversität und Zulassung. Kitsch ist hierdurch Gegenstand einer sprachlichen Besonderheit.

.

Bild

Malerei von Dietmar Moews als Nachbildung von „Canestra di Frutta“ von Michelangelo Caravaggio

.

Der sachliche Zusammenhang von Kunstqualität einer Kitsch-Ästhetik gegenüber Profankunst oder Hochkunst wird weder im alltäglichen Sprachgebrauch noch in der Kunstwissenschaft unter der Kategorie Moderne und Postmoderne besonders vertiefend ausgewiesen.

.

In Deutschland bedienen sich Kunstpublizistitk, Kunstwissenschaft und Künstler weitgehend einem kleinkarierten Bla-Bla der deutschen Höchstkultur.

.

Bild

Malerei von Dietmar Moews als Nachbildung von „Der heilige Joseph als Zimmermann“ von Georges de La Tour

.

Eine Kitsch-Ästhetik-Kritik und eine soziologische Kitschdiskussion unterbleiben weitgehend, während die abwertenden Gebrauchszusammenhänge wie Naturgesetz den gesellschaftlichen Abgrenzungsbedürfnissen dienen und ein Eigenleben der Benutzung zeitigen.

.

Bild

Altmeisterliche Malerei von Dietmar Moews „Theatralische Sendung“ nach Georges de La Tour

.

Das Wort Kitsch und der Bedeutungshof im alltäglichen Sprachgebrauch haben einen Entlastungscharakter für die Benutzer. Unter dem sozialen Druck der unvermeidlichen oder gewünschten sozialen Interaktionen bieten oberflächliche Verhaltensweisen, wie es Bedeutungsfelder von Mob, Sozialekel, Spießbürgerei, Sündenbock, Hexenjagd und Bullshit ausdrücken, die wahrnehmungsökonomische Ausprägung des allgemeinen und besonderen Lebensstils.

.

http://www.youtube.com/watch?v=lwdfQPDStIY

.

… Ihm waren diese Schnulzen“ (so sagt man doch wohl im Neuhochdeutsch) Transporte hin zur Anteilnahme an einer Freude. Nach solchen Erschütterungen entdeckte er, dass Kitsch zwar ästhetisch definiert werden kann, auch als Angeberei mit gefühlen, die nicht existieren, dass damit aber nichts über den Zündstoff, der ihn brennen ließ, gesagt ist. Die unausdenkbare Kluft zwischen den Höhen einer Kultur und ihrer geringen Wirksamkeit wäre am Kitsch zu demonstrieren, der (einer Naturgewalt vergleichbar) die Enge zu sprengen vermag, wo dies sublimeren Gebilden versagt ist. Die Macht der Trivial-Literatur ist beklagt, verurteilt, verhönht worden – aber nicht erkannt.“

(Ludwig Marcuse „Nachruf auf Ludwig Marcuse“, München 1969)

.

aus dem Lexikon des Kunstwesens von Dietmar Moews zum Schlagwort „Kitsch“

Kitsch, deutsch/jiddisch, seit ca. 1870 in Deutschland, zunächst im Münchner Kunsthandel gebräuchlicher Begriff für Kunst minderer Qualität, der etymologisch von itsch, kitsch, verkittschen (jiddisch: etwas andrehen) oder auf das Englische sketch (flüchtige Machart einer Handzeichnung) bezogen wird.

Als soziologischer Wertbegriff in der Sprache ist K. überwiegend als eine Kennzeichnung von Minderbewertung von Werken bzw./und ihrer Wirkung als Ausdruck bzw./und Eindruck als menschliches Verhalten, aus der Perspektive einer auf Exklusivität und Maßgeblichkeit wertenden Sprachherrschaftsgruppe gemeint, kurz: Aburteilung der Dummen Kitschbenutzer.

.

Dabei ist eine solche exklusive Anspruchshaltung ausdrücklich eine rechte Position, während die linke Position tolerant auf den offenen Werteprozess im Sinne einer Widerspiegelung der im gesellschaftlichen Sein angebundenen Wertvorstellungen abstellt und allerdings über minderwertige Kitsch-Ästhetik und sachliche Qualität sowie über mögliche menschenfeindliche Wirkungen aufklärt.

.

Eine lediglich exklusive Deutungshoheit von Menschen, bei angemaßter eigener Hochwertigkeit, über Menschen, die als K. bezeichnete Werke oder Gefühle gebrauchen und estimieren ist illegitim, aber illegal.

.

Ausgehend von den Freiheitspostulaten im Deutschen Grundgesetz (GG § 1 u. 5) ist soziales Exklusivitätsbegehren offenen Wertprozessen der Sozio-Kultur und des Sittenwandels zu belassen.

.

Insofern ist eine als K. minderwertig angesehen materielle, sinnliche Anmutung von ästhetischen (Kunst)werken als Ausdrucksqualität bzw. als gemeinsprachlich emotional minderwertige, triviale, oberflächige Eindrucksqualität, der individuellen Selbstbestimmung des Konsumenten von K. selbst zu überlassen.

.

Folglich ist K. zu qualifizieren und zu kritisieren, indes Produzenten sowie der Konsument von K. und die Konsumentengruppe insgesamt in ihren ästhetischen Wertorientierungen frei und selbstbestimmt zu tolerieren und zu respektieren. K. kommt dem empirischen Erleichterungs- und Vereinfachungsbedarf in der Kultur entgegen und erfüllt im Leben Geringerbegabter unersetzliche Integrationsfunktionen.

.

Der alltagssprachliche Gebrauch von K. unterscheidet die Vorurteile über K. nicht in materielle Werkqualität und Rezipientenverhalten. Sondern die linke und die rechte Sprachgruppe ver- oder beurteilt die eigene Exklusivität bzw. Inklusivität und die Angehörigen der jeweils anderen Wertgruppe, indem der notwendige Umgang mit K. wertend gefasst wird.

.

Als ästhetische Materialqualität werden als K. Oberflächigkeit, Talmy, Goldfarbe statt Gold, industrielle Massenhaftigkeit,

.

K. ist als Kunstware im Bereich des gesellschaftlichen Steuerungs- und Kontrollrahmens, dem Kaufvertrag und dem Rechtsstaat anvertraut (z. B. auch kulturindustriell bei den Verwertungsgesellschaften Gema, für Musik, VG-Bild für Bildwerke, VG-Wort für Texte, GVL für Theaterstücke ressortiert).

.

Als Selbstwert der Kunst gilt die Freiheit der Kunst, indem das Postulat des Pluralismus maßgebliche Norm sein soll, wonach K. wie Hochkunst, Breitenkunst, Populärkunst u. a. jeweils eine Wertentscheidung der Produzenten und der Konsumenten im Kunstprozess sein sollen, insbesondere sich der Staat offizial von Kunstbewertungen frei zu halten hat (BvfG-Urteile).

.

.

Damit können K. sowohl Werke der Bildenden Kunst (z. B. Gartenzwerge; Barbie-Puppen; Picassos Votzenbilder; das Kindchenschema der Dicken von Botero) sein, sowie der Literatur (z. B. Groschenromane vom Krieg, Liebe, Tod, Verbrechen, Abenteuer. Hedwig Courths-Mahlers verwendet Gefühlsklischees, wie sozial Benachteiligte zu Reichtum, Glück und Ansehen kommen), der Musik (z. B. traditionell-folkloristische Werke als Schlagermusik; Schnulzen) oder Werke in Fernsehen, Theater, Kino (mundartliche Kommödien; Seifenopern, Heimatfilme, simplifizierende Verfilmungen von Weltliteratur, z. B. Vom Winde verweht; Karl-May-Romane), in der Architektur (z. B. Camouflage von nachgebauten historischen Fassaden vor Stahlbeton-Zweckformen; Disneyland; Casinobauten in Las Vegas), Philosophie (z. B. Weltuntergangsansagen wie das Ende (Armaggeddon) der Welt, die Apokalypse in der Bibel; Adornos Zerstörungshypothesen in der Dialektik der Aufklärung: der Fortschritt zerstöre den Fortschritt, verteufelt K. als Erscheinungen des Kulturverfalls und denunziert die Massenkultur, statt die emanzipative Lieferung der weitreichenden Versorgung als Segen und Seinsentsprechung zu verstehen), wie Kindchenschema, Stereotype, Nippes, Klischees statt echter Gefühle.