Orgeln und Gedanken zur Orgeldenkmalpflege von Eberhard Jäger

September 1, 2018

Lichtgeschwindigkeit 8412

am Sonntag, 2. September 2018

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Ein früherer Freund und bedeutender Kirchenmusiker und Orgelgeschichtler, Gründer des Leo De La Haye-Archiv, Mitgründer des Springer Museums auf dem Burghof, Mitgründer der Johannes-Brobowski-Stiftung und Autor der größten Sammlung von deutschen Pfadfinder-Liedern und ehemaliger Bundessingemeister, Eberhard Jäger (1916-2006). fügte seinem orgelgeschichtlichen Buches, „Die Orgeln des ehemaligen Kreises Springe“ (Berlin 1975) eine orgelpolitische Anmerkung an, die von hellsichtiger mikrosoziologischer Einsicht geprägt ist:

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„In der Hannoverschen Landeskirche, und sicher auch in anderen Gegenden, sind Bestrebungen und eine deutliche Aufgeschlossenheit der Kirchenleitungen und ihrer Fachgremien spürbar, die Orgeldenkmalpflege auf eine breitere Basis zu stellen. Durch die Hinzuziehung der betreffenden ehrenamtlichen Bezirks- und Kreisfachberater (oder sonst aus den Kollegenkreisen gewählter Fachvertreter, etwa als Orgelbeiräte) bei den Beratungen orgelpflegerischer Maßnahmen durch Berichte in den Fachgremien bekannt. Die anstehenden Probleme werden auf breiter Ebene diskutiert, Anregungen können an die Experten weitergeleitet, mit ihnen besprochen und geprüft werden. Dadurch ist der Anschluß an die Maßnahmen der verantwortlichen Stellen zur allgemeinen Aufarbeitung und ihre Bewältigung verbessert. Die Kollegen können draufhin den jeweiligen Pastoren und Kirchenvorständen sachkundiger Bericht erstatten. Die Denkmalpflege hat – auch auf dem Gebiet der allgemeinen Bau- und Kunstpflege – eine solche breite Basis des Allgemeinverständnisses und der Mitarbeit nötiger denn je, weil mangelnde Sachkenntnis mancher Kreise und daraus resultierende Fehleinschätzung in einer Zeit wachsender und geforderter Mitbestimmung zu verheerenden Auswirkungen führen können.

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In der Folge dieser Entwicklung setzt sich die schon immer gültige Tatsache durch, daß jede Kirchenleitung, jeder Kirchenvorstand und die betreffenden Amtsträger – genau wie jede Landesregierung, jeder Gemeinderat, jede betreffende Verwaltungsregierung, jeder Gemeinderat, jede betreffende Verwaltungsstelle – sich bei der Verwaltung, Pflege und dem Einsatz vorhandener Kulturwerte (Natur- oder Bauwerte) als Treuhänder verstehen, die eine hohe Verantwortung tragen. Die Pflege und Erhaltung dieser Werte dürfte zu den noch viel zu wenig anerkannten Menschenrechten auf Heimat und Kultur und somit auf Lebensqualität gehören. Von den verantwortlichen Stellen muß die Bereitschaft erwartet werden, bei auftretenden Fragen zu antworten, zu prüfen und in ein echtes Gespräch einzutreten. Es muß auch die Möglichkeit geben, in Fällen, in denen eine Veruntreuung oder Vernichtung solcher, das Allgemeininteresse berührende, Werte anzunehmen ist, eine Disziplinaruntersuchung zu beantragen. Hieraus ergibt sich die logische Folgerung, daß in der Ausbildung aller Amtsträger, Baufachleute, Theologen, Kirchenmusiker, Beamten und Lehrer die sachliche Vorbereitung auf diese Verantwortung ihren festen Platz findet.

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Für die Arbeit der Denkmalpflege und der Orgeldenkmalpflege im besonderen sind verpflichtende Richtlinien oder Satzungen erforderlich. Unter mancherlei Beiträgen ist hier auf das „Weilheimer Regulativ von 1957, Neufassung 1970“ (Orgeldenkmalpflege) hinzuweisen, das von der Gesellschaft der Orgelfreunde (Auskunft Dr. Supper, Eßlingen, Turmstraße 17) erarbeitet wurde. Ebenso wird auf die grundsätzlichen Bemerkungen von Prof. Dr. Reuter in „Die Orgel in der Denkmalpflege Westfalens“ (Bärenreiter-Verlag) hingewiesen. Im gleichen Verlag ist schon 1939 der Beitrag von J. G. Mehl „Die Denkmalpflege auf dem Gebiet der Orgelbaukunst“ erschienen, der wichtige Erkenntnisse vermittelt.

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Viele Fragen der Orgelpflege und der Denkmalpflege bedürfen in jedem Einzelfall einer sorgfältigen, speziellen Prüfung und eines hochkünstlerischen, nachschaffenden Einfühlungsvermögens. Aller toter Schematismus ist auf diesem Gebiet besonders verderblich. Man hat darum mancherorts mit Erfolg für Einzelfälle Kommissionen gebildet, die in aufgeschlossener Weise allen Hinweisen nachgehen. Ähnlich wie bei der Archäologie sind von Beiträgen früherer Zeiten in Orgelwerken oft nur noch geringe Spuren vorhanden. Eine mehr materiell eingestellte Geschichtsbetrachtung der einzelnen Orgelgeschichte oder Baugeschichte neigt dazu, diese Spuren unterzubewerten und zu vernichten. Ein Beispiel hierfür scheint mir die kürzliche Renovierung der in ihren Urbeständen auf Scherer zurückgehenden Orgel der Nicolai-Kirche zu Mölln zu sein, im Blick auf die Beseitigung des schönen Spielschrankes und eines Teils der Windladen aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts und andere diesbezügliche Fragen (Pfeifenwerk, Regelwerk). Ähnliche Fragen wurden bei anderen vergleichbaren Maßnahmen in Nord- und Süddeutschland von Fachleuten geäußert.

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Eine andere Handhabungsweise versucht, einen oft nicht mehr exakt zu ergründenden Urzustand wiederherzustellen, was in den Fällen, wo zum Beispiel nur der alte Prospekt und sonst ein uninteressantes Werk vorhanden sind, für sich spricht. Ich plädiere mehr für die Richtung der Orgeldenkmalpflege, die äußerst behutsam an den vorgefundenen Zustand herangeht, um keine Spuren zu verwischen.

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Auch heute noch trifft man bei Kirchenrenovierungen die für die Erhaltung des gewachsenen kulturellen Zusammenhangs so verhängnisvolle puritanische Richtung an, die wertvollstes Kulturgut (Gestühl, Einrichtungen) verwirft und zerstört, weil es aus anderen Stilepochen als der Urbau stammt. Wie grausam sind manche akademisch-neugotischen oder neuromantischen oder neuzeitlichen Inneneinrichtungen, obwohl es auch auf diesen Gebieten gute, künstlerisch gelungene Lösungen gibt, die erhalten werden sollten. Eine namhafte, künstlerisch befähigte Persönlichkeit (Dr. phil.) berichtete von einer alten romanischen Kirche, die in unseren Tagen durch Reinigung des Gesteins und „stilechte“ Ausmalung alle Echtheit verloren hatte: Das Patina des Alters, die Spuren der Geschichte, die künstlerische Wirkung war vernichtet. Die alte Kirche wirkte wie ein neuromanisches Machwerk, ein modernes Schreckgespenst in der Art der unkünstlerischen „akademischen“ Renovierungen des vorigen Jahrhunderts, eine Vergewaltigung des Geistes und der Ausstrahlungskraft dieses Baues. Ähnliche Handhabungen sind mancherorts auch auf dem Gebiet der Orgeldenkmalpflege zu befürchten.

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Dieser Gefahr würde durch das Bestreben, den gewachsenen Zusammenhang zu erhalten und möglichst wenig zu verändern, begegnet. Die immer noch anzutreffende Methode, Kunstwerke wie zum Beispiel auch eine aus verschiedenen Zeiten zu einer eigenartigen Klanggestalt gewachsene Orgel, gewaltsam in einen „historischen“ oder sonst umwälzenden Zustand umzufunktionieren, erscheint in vielen Fällen als sehr fragwürdig. Dann sollte man lieber versuchen, einige neue Orgeln nach altem Muster auf der Grundlage der jeweiligen Erkenntnisse zu bauen, wie man es in der Frühzeit der Orgelbewegung bei der „Praetorius-Orgel“ in Freiburg versucht hat. Inzwischen liegen Erfahrungen vor, wie schwierig es ist, bei Denkmalorgeln frühere durchgreifende Restaurierungsmaßnahmen rückgängig zu machen, über die man heute schon wieder ganz anderer Meinung ist. Hier begründet sich die Empfehlung, bei der Restaurierung alter Orgelwerke sehr behutsam zu verfahren, die gewachsenen späteren Zutaten beizubehalten und nur die groben Verunstaltungen und Eingriffe vorsichtig abzustellen, wie das in den meisten Fällen auch gehandhabt wird.

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Denkmalwürdig sind – wie auch von amtlicher Seite festgestellt ist – Orgelwerke und Spielschränke bis in die sechziger Jahre des vorigen (19.) Jahrhunderts, die oft materialmäßig und in ihrer Gestaltung von einmaliger künstlerischer Ausgewogenheit und Schönheit sind. Erstrebenswert ist es, auch einige Werke und Prospekte der späteren Zeit, der neugotischen Epoche, des Jugendstils und aus dem Beginn der Orgelbewegung zu erhalten, wie es in einigen Kirchen, in denen eine neue Orgel an einem anderen Platz errichtet wurde, schon geschehen ist. Auf diese Weise könnten einige originale Reger-Orgeln, einige offene Pfeifenprospekte und originelle Architekturentwürfe sowie verschiedene pneumatische, elektrische oder andere Systeme erhalten werden.

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Es soll hiermit nicht einem einseitigen Historismus das Wort geredet werden. Neubauten müssen auch neue Wege suchen. Erfahrungsgemäß ist es sehr wichtig, daß an Denkmalorgeln nur diejenigen amtieren, die einen Sinn für ihre Eigenart haben. Die auch an solchen Werken mögliche alte und moderne Orgelliteratur ist so reichhaltig, daß Gemeinden mit Denkmalorgeln nicht zu kurz kommen. Es ist eine Tatsache, daß auch auf dem Gebiet des Orgelspiels vielmehr Techniker als begnadete Künstler mit hervorragender Spieltechnik zu finden sind. Technik brilliert, aber läßt kalt, nur die geistbegnadete künstlerische Aussage zündet und rührt die Tiefe des Glaubens und des Menschseins an. Solche Haltung ist selbstbescheiden, empfindet den Geist, der aus den Dingen spricht, hier besonders in der überkommenen Klanggestalt einer Orgel, und hat innere Verbindung zu diesem „Lob aus der Tiefe der Zeiten“. Die Ehrfurcht vor dem was dort lebendig wirkt ist für diejenigen, die dafür noch ein Empfinden haben, eine Quelle reichen Erlebens überkommener Zeugnisse des Geistes und des Glaubens früherer Zeiten. Darum ist es notwendig, auch für die Zukunft alter Orgelwerke, alte Spielschränke und andere Zeugen der Kultur früherer Zeiten zu erhalten. Die Ausbildung der Organisten müßte auch auf alten Orgeln versuchen, Eindrücke von der Spielpraxis, der Artikulation, der Tradition und der Werkinterpretation sowie der reichen Kraft einer bewußten Begrenzung für die Improvisation zu wecken und zu pflegen, damit aller Verarmung auf diesem Gebiet entgegengetreten wird. Daß dieses eine realistische Forderung ist, beweist die Tatsache der vielen in diesem Sinne ansprechbaren Spieler, die auf alten Orgelwerken in besonderer Weise zur Improvisation bis hin zu modernsten Formen angeregt werden.

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Eberhard Jäger, 2004, Zeichnung von Dietmar Moews

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Wie auf dem Gebiet des Städtebaues Ortssatzungen zur Erhaltung des Ortsbildes und der eigenartigen künstlerischen Atmosphäre nötig sind (gute Beispiele gibt Polen bei dem Wiederaufbau alter Ortskerne, wo außer der Formanpassung auch die Materialanpassung und die Erhaltung alter Fassaden beachtet wurden. Hiesige Ortssatzungen, soweit sie vorhanden sind, fordern zwar entsprechend den landschaftlichen Gegebenheiten, zum Beispiel bei den Bedachungen, echte rote Tondachziegel oder Schiefer, in der Wirklichkeit aber werden die Ortsbilder durch die abstoßenden und unfreundlichen schwarzen Zementdachsteine, Kunststoffe und Klinker verdorben), empfehlen sich ähnliche Satzungen im übertragenen Sinn auch auf dem Gebiet des Orgelbaues für die Renovierung alter Orgelwerke. Leider wird hier der Materialanpassung weithin zu wenig Beachtung geschenkt. Alte Ebenholz-, Elfenbein- oder Knochenbeläge sehen oft, trotz einzelner Beschädigungen, nach Jahrhunderten noch schön aus, genau wie alte Sandsteine oder Natursteine auf dem Bausektor. Wie häßlich sehen dagegen Bakelit- und andere Kunststofftastaturen schon nach wenigen Jahrzehnten aus, in unserem Gebiet zum Beispiel die Manualklaviaturen in Bennigsen (braun verfärbt), St. Andreas und Friedhofskapelle Springe (verzogen, gerissen) und andere. Ebenso wirkt es störend, wenn alte Spieltischanlagen mit Sperrholz ergänzt werden. Es setzt sich die Erfahrung durch, daß eine solide im Blick auf das Material anspruchsvolle Bauweise auf die Dauer die haltbarste, ansehnlichste und rentabelste ist.

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Satzungen zur Denkmalpflege und zur Orgeldenkmalpflege sollten wie auf kommunaler Ebene von allen Verwaltungen und Volksvertretungen, so auf kirchlicher Ebene von allen Kirchenleitungen, Kirchenvorständen und Dienststellen erarbeitet und beschlossen, in den Ausbildunginstituten gelehrt und durch Schaffung entsprechender ehrenamtlicher Gremien auf breiter Basis bearbeitet und gesichert werden,

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Beispiel nach meiner Meinung besonders erhaltungswürdiger Orgeln, Prospekte und Spielschränke im hiesigen Gebiet:

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Orgeln: Altenhagen I, Hachmühlen, Hüpede, Jeinsen, Sorsum, Schulenburg, Teile der Springer Andreas-Orgel, Wittenburg, Wülfingen und aus neuerer Zeit gegebenenfalls Bad Münder und Bennigsen. (Mechanische Chororgeln als Ausgleich anzuraten).

Prospekte: Adensen, Altenhagen I, Bakede, Beber, Bennigsen, (ursprünglich im Jugendstil), Eldagsen, Hachmühlen, Hüpede, Jeinsen, Pattensen, Schulenburg, Wittenburg, Wülfingen und Wülfinghausen.

Spielschränke: Adensen (original erhalten), Altenhagen I, Hachmühlen (stilgerecht erneuert) und Schulenburg.“

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Dietmar Moews meint: Die Spur der Botschaften von Eberhard Jäger, der auch seinen eigenen Glauben bekundet, ist die Überzeugung erlebt zu haben, dass man nicht alte Kulturzeugnisse konservieren soll, weil sie alt sind.

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Eberhard Jäger wusste, dass Kulturschaffen von künstlerisch-gebildeten Menschen gelernt werden kann, indem man die alten, möglichst unverfälschten Kulturdenkmäler bewahrt, um dadurch seine Urteilssicherheit trainieren zu können, während man seine eigene neue Kultur entfaltet. Dabei ist Kunstschaffen lediglich ein besonderer Zweig des kulturellen Lebens einer Gesellschaft.

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