Lichtgeschwindigkeit 10208
am Sonntag, den 2. Mai 2021
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Ich möchte gerne loben, was die DLF-Redaktion mit der sonntäglichen Reihe
„ESSAY UND DISKURS“ mit der Redakteurin Barbara Schäfer seit Jahren produziert und bereitstellt, hier mit Mathias Greffrath.
Und Greffrath bringt einige lesenswerte Originalautoren:
„Ernst Jünger, notiert melancholisch:
„Menschliche Vollkommenheit und technische Perfektion sind nicht zu vereinbaren. Wir müssen, wenn wir die eine wollen, die andere zum Opfer bringen.“
Günter Anders, Georg Friedrich Jünger, Elon Musk, Aristoteles, Hölderlin, Jens Kersten und Richard Giesen, Yuval Harari, André Leroi-Gourhan, Arnold Gehlen, Dietmar Dath, Nick Srnicek und Alex Williams.
Heute möchte ich den Essay empfehlen, der gewissermaßen bringt, wozu der Deutsche Gewerkschaftsbund zum 1. Mai und auch sonst nicht an Impulsen, Ideen und Visionen hervorzubringen geneigt ist, wenn die Erwerbsgesellschaft im permanenten Wandel der Weiterentwicklung – Digitalisierung bis zur Entmündigung, Profitmaximierung bis zum Kotzen vor Geld und dem Kampfprinzip überlassene Umwelt-Belastung – keine Synthesen oder Auflösungen hervorzubringen gewillt und nicht fähig ist.
Wie ich schon vielfältig dargelegt habe, sind Marxismus und Karl Marx überhaupt keinerlei intelligente Vorstellungen, die mehr als Wünschen und Sollen fordern, für die heutige Menschen nicht blöd genug, intelligent genug und moralisch genug sein können.
Mathias Greffrath ist ein westdeutscher Marxist und Publizist, der sich Gedanken macht, meist mit hilflosen Marxanbindungen, wie auch hier bei seinem Automatisierungs-Essay (Erstsendung Nov. 2020). Nur in dem neuen Feld, zwischen Günter Anders (eher links) und Georg Friedrich Jünger (konservativ) hat Mathias Greffrath bei ergiebigen Autoren getankt, die eine geltendere Dimension bringen, als Marx oder gar Engels.
Immerhin freut es mich. Deshalb auch großen Dank an Barbara Schäfer, die hier als Gatekeeper für den DLF den richtigen Nerv hatte.
DLF am 2. Mai 2021 (auch in der Mediathek):
„Anmerkungen zur Automatisierung Von der Zukunft des homo sapiens
Homo sapiens hat die Hand durch das Werkzeug verstärkt, das Werkzeug zur Maschine entwickelt, seine Sinne durch Sensoren erweitert; zunehmend überlässt er nun die geistige Arbeit den Computeralgorithmen, die bereits die organisierenden, kreativen, musischen Tätigkeiten übernehmen.
Von Mathias Greffrath“ (hier nicht in Lichtgeschwindigkeit gekürzt!)
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„Durch diese sozio-technische Evolution stieg in Jahrtausenden die Macht der Gattung über die Bedingungen des Überlebens in einer feindlichen Umgebung. Das Leben wurde sicherer und komfortabler – aber die Verfügung des einzelnen Exemplars Mensch über die Bedingungen seines Lebens schrumpft. Wenn homo sapiens von seinen Werkzeugen, seinen Gesten, seinen Muskeln, seinen Gedächtnisleistungen und seiner Fantasie befreit wird – was bleibt dann von ihm? Steht er am Ende seiner Laufbahn – oder hat er noch die Freiheit, sapiens zu bleiben? Wenn Wünsche in Erfüllung gehen – Mathias Greffrath führt in seinem Essay Fakten und Gedanken zur Automation zusammen.
„Warum sitzen immer noch Kassiererinnen und Kassierer an der Supermarktkasse? Warum laufen immer noch menschliche Roboter durch die Lagerhäuser? Warum füllen kluge Menschen immer noch langweilige Tabellen aus?“
Ich gebe diese zwei Zeilen in meinen Laptop. Auf Englisch. Drücke die Return-Taste. In Sekundenschnelle schreibt der Algorithmus des Textgenerators GPT-2, ein Pilotprojekt der Künstlichen Intelligenzentwicklung, das von Elon Musk und Microsoft gefördert wird, meinen Text automatisch weiter:
„Warum bleiben diese Rätsel seit 30 Jahren oder mehr ungelöst? Dieser Beitrag wird dazu beitragen, einige dieser Dinge zu erhellen, aber vielleicht auch einige Fragen aufwerfen. ‚Wohin können Menschen arbeiten gehen?‘ Ich meine, wie viele Arbeitsplätze sind nicht auf Technologie begründet? Wir haben einen Anstieg der Zahl der selbstfahrenden Autos erlebt. Aber ist uns nicht allmählich klar geworden, dass es sich dabei eigentlich eher um Ineffizienzen als um Vorteile handelt? Und sie haben nicht wirklich Beschäftigung geschafft…“
Das ist natürlich ein Spiel, aber ein bisschen unheimlich ist das schon. Als GPT-2 mir diesen Text anbot – er offerierte auf Nachfrage noch drei andere Versionen, in denen ich mich auch wiederfinden konnte – da hatte ich wieder einmal das Gefühl, dass ich 20 Jahre nicht so richtig gemerkt habe, dass da etwas ein Gang gekommen ist, dessen Konsequenzen ich noch nicht begriffen habe – aber wer hat das schon.
Das Corona-Jahr, immerhin, hat den Nebel über der Zukunft ein wenig gelüftet. Mein Wort des Jahres, aber auch da bin ich wohl nicht allein, heißt „Brandbeschleuniger“. Beschleunigt hat das Virus die Erkenntnis über den Zusammenhang der belastenden Entwicklungen der letzten Jahre: den Klimawandel, die Weltwirtschaft, die Migration, die Kluft zwischen Arm und Reich, den neuen Nationalismus. Beschleunigt aber hat der Lockdown vor allem die Geschäfte der Lieferdienste aller Art, der Versandhändler, der Video-on-demand-Anbieter, der Produzenten von Hard- und Software für Telekonferenzen, Firmenbetriebssysteme, Tracking Apps – all diese Serviceleistungen, die auf den Servern, in den Clouds der ökonomischen Infrastruktur-Großmächte der Epoche laufen: Microsoft, Google, amazon, Facebook, Apple.
Der Lockdown hat ihnen gigantische Profite beschert und mittelständische Unternehmen in den Konkurs getrieben. Ohne die logistischen Leistungen der Plattformen wäre der Lockdown ungemütlich und anstrengender geworden, doch das home office, die Kurzarbeit und die angekündigten Entlassungen ließen die Ahnung aufkommen, dies könne nur ein Vorgeschmack sein auf das, was seit ein paar Jahren Industrie 4.0 und Arbeit 4.0 heißt.
Ein Epochenbruch – Industrie 4.0, Arbeit 4.0 – die Schlagworte klingen nach Evolution, nach Fortschritt auf einer früher eingeschlagenen Bahn. Das klingt harmlos. Aber es spricht alles dafür, dass diese Entwicklung Teil eines Epochenbruchs ist, der ebenso einschneidend sein wird wie die beiden vorigen Veränderungen im Aggregatszustand der Menschheit: der Übergang zur Sesshaftigkeit und die industrielle Revolution. Ein Epochenbruch, der sich mit zwei Großereignissen in die Menschheitsgeschichte einschreiben wird: zum einen die dramatischen Umweltveränderungen – der Klimawandel, das Artensterben, die Erschöpfung von Erde und Wasser. Und zum anderen die neuen, mächtigen Werkzeuge, die uns die Digitalisierung in die Hand gibt.
Bei Anthropologen haben wir, die Mitglieder der Gattung homo, Unterart homo sapiens, zwei Namen: zum einen animal laborans, das sich mit Arbeit plagende Tier, zum anderen homo faber, der Mensch, der Werkzeuge machen kann – und der von seinen Werkzeugen geformt wird. Und schon immer hat das animal laborans davon geträumt hat, dass die Werkzeuge ihm eines Tages die Plage abnehmen.
„Wenn die Weberschiffchen von selber webten und das Plektron die Kithara schlüge, bedürften die Baumeister keiner Gehilfen und die Herren keiner Sklaven.“
So steht es bei Aristoteles. Wenn es Automaten gäbe, brauchte man keine Sklaven mehr, die Hierarchien stünden zur Disposition. Die Technik befreit von harter Arbeit und von Herrschaft, die Maschine ermöglicht allen das Leben von Herren. Ihr Grenzfall ist der Automat – oder richtiger: die weitgehend menschenunbedürftige Produktion. Die Geschichte der Werkzeuge, der Technik ist eine Geschichte zunehmender Befreiung von den Zwängen der Natur, und damit zunehmender Freiheit auch von Herrschaft. Aber es war eine lange Geschichte; und beide, die Fortschritte der Technik und die der Freiheit – beide brauchten immer wieder Geburtshelfer.
Das Leben ohne die Mühsal der Arbeit: Es blieb 2.000 Jahre lang ein Traum der unteren Klassen – und das waren neun Zehntel der Völker. In den Utopien der Renaissance stützten kühne technische Erfindungen zwar die Idee einer Gesellschaft von Gleichen. Aber erst in der Gleichzeitigkeit von Aufklärung und Industrieller Revolution begannen sich Fortschritt in der Naturbeherrschung und Fortschritt in der Freiheit zu verbinden.
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Industrie 1.0 – das war die Verbindung von Kohle und Maschinen.
Industrie 2.0 – das war die Einführung der von Elektromotoren betriebenen Massenfertigung.
Industrie 3.0 – das war der Beginn der Datenverarbeitung und Prozessteuerung durch Computer.
Mit jeder Stufe entkoppelte sich die Menschheit mehr von dem, was Jahr für Jahr nachwächst und diese Kultur – manche nennen sie Kapitalismus – verbreitete sich rund um den Erdball und hat den Wohlstand, wenn auch ungleich, gesteigert. Aber diese Erfolgsgeschichte hat uns nun in eine Klemme geführt, die uns den Grund und Boden – und die Luft – entzieht für das, was Jahr für Jahr nachwächst. Aber gleichzeitig stehen am vorläufigen Ende der Technologiegeschichte die neuen, revolutionären Werkzeuge der Digitalisierung: das Netzwerk aus Computern, Software, Internet, Smartphones und die Industrie 4.0.
Die Einführung von Industrierobotern, die Computerisierung der Büroarbeit, die software-unterstützte Arbeit von Architekten oder Ingenieuren in der Industrie 3.0 konnte man durchaus noch als eine lineare Weiterentwicklung der Mechanisierung begreifen – immer noch geht es um die Befreiung von Routinearbeiten. Erst die Plattformökonomie und das „Internet der Dinge“ signalisieren einen Bruch oder den Übergang in eine neue Epoche.
Wer nicht „performt“ – Noch sind Industrie 4.0 und Arbeit 4.0 Schubladenbegriffe. Unterschiedliche Autoren füllen unterschiedliche Inhalte hinein. Wo ist das Revolutionäre an ihr? Das Weißbuch Arbeit 4.0 des Arbeitsministeriums nennt „die Digitalisierung“ die „heimliche Hauptfigur“ der neuen Arbeitswelt. Das ist mehr als eine Metapher und es geht auch um mehr als um die Arbeitswelt, denn diese heimliche Hauptfigur verändert die Verhältnisse in fast allen Bereichen des Lebens, stellt Produktion, Konsum, Verteilung und Genuss auf eine neue Grundlage. Digitalisierung durchwebt die Gesellschaft als Ganze.
In den Fabriken treibt sie den Prozess der Taylorisierung und Rationalisierung an sein Ende: Algorithmen rechnen aus, ob es nicht minimal günstiger ist, wenn der Montagearbeiter sich nicht umdreht, um die Schrauben aus dem Kasten zu holen, sondern ein geringbezahlter Zureicher sie ihm in die Hand gibt. Künstliche Frauenstimmen geben Lagerarbeiterinnen den nächsten Auftrag, die Software erkennt, wer gerade unterbeschäftigt ist und wo der nächste Kasten abgeholt werden muss. Smarte Handschuhe, Wearables, geben kleine Impulse ab, wenn beim Scannen von Barcodes ein Fehler gemacht wird, Prozesssteuerungssoftware installiert Systeme kollegialer Bewertung, die den Wettbewerb unter den Arbeitern steigern oder sie registriert, mit Hilfe von sensorischen Netzen, ob der Weg zur Toilette oder in die Entwicklungsabteilung in der Sollzeit erledigt wurde. Betriebliche Herrschaft wird so von den Personen des mittleren Management abgekoppelt und anonymisiert, und damit dieses mittlere Management tendenziell auch überflüssig gemacht. Technik befreit die Menschen, aber die Gleichung funktioniert nicht automatisch.
Auf der überbetrieblichen Ebene stellen Plattformunternehmen wie Uber, Lieferando oder amazon nicht länger Fahrer, Zustellerinnen oder Boten ein, sondern vermitteln sie, als Scheinselbständige, als Auftragnehmerinnen mit Netzanschluss, bei Uber mit eigenem Auto und auf eigene Rechnung. Aber wenn sie nicht „performen“ oder zu selten Lust haben zu arbeiten, verweigert ihnen die Plattform die Vermittlung. Uber dirigiert die Fahrer in jeder Hinsicht wie Angestellte, zahlt weder Lohn noch Sozialleistungen und kassiert oft mehr als 30 Prozent des Fahrpreises für die Vermittlung – und das ganze wird verkauft mit dem Slogan: Sei dein eigener Chef, teile deine Arbeit selbst ein.
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Digitale Dienstleister spalten komplexe Arbeitsvorgänge in tausende von kleinen Aufträgen auf, die an hunderten von Orten, in Heimarbeit, überall auf der Welt bearbeitet werden können. So werten in Venezuela Familien an den Küchentischen Millionen von Fotos mit Verkehrssituationen aus – und legen damit den Grund für die Entwicklung des sogenannten autonomen Fahrens.
Einen Betrieb, als den Ort, an dem Arbeiter gemeinsam tätig werden, einander begegnen, miteinander reden, gemeinsam etwas fordern, den gibt es bei diesen Arbeitsformen nicht mehr. Das schwächt die Verhandlungsmacht der Eigentumslosen. Die Taktung der Fabrikarbeit durch Roboter, die Gleichzeitigkeit von Vernetzung und Isolierung in den Welten des home office und der Gig-Economy, das neue Elend der Heimarbeit – all das erinnert die Münchner Juraprofessoren Jens Kersten und Richard Giesen an die Charakteristik der frühen Fabrikarbeit in den Analysen von Karl Marx:
„Im modernen Fabriksystem ist der Automat selbst das Subjekt, und die Arbeiter sind nur als bewusste Organe seinen bewusstlosen Organen beigeordnet und der zentralen Bewegungskraft untergeordnet… als lebendige Anhängsel.“
Und es lässt sie fragen: – „Wer arbeitet hier selbständig, wer abhängig? Wer instrumentalisiert hier wen? Menschen die Maschinen oder die Maschinen die Menschen? Sind und handeln wir Menschen in dieser digitalisierten Arbeitswelt noch als autonome Akteurinnen und Akteure? Ist diese neue Arbeitswelt noch unsere Welt?“
Aber die Frage, „wer wir sind“, und ob „wir“ noch „in diese Welt passen“, die lässt sich nicht mehr umstandslos beantworten in einer Weltgesellschaft, in der es nicht länger ein alle umfassendes und verpflichtendes Menschenbild gibt. Umso größer wird die Nachfrage und klafft die Marktlücke für wissenschaftliche Gurus, die uns möglichst verbindlich sagen, wohin die Reise geht.
„Entfesselung der Technik“ – Am Ende dieser Entwicklung, so schrieb es vor einigen Jahren der Historikerstar Yuval Harari, könne so der Homo Deus stehen, der zunächst mit elektronischen Prothesen hochgetunte, dann mit Chemie und DNS-Chirurgie veränderte, klüger und schöner gewordene und schließlich seinen Gehirninhalt auf einen Chip runterladende, mit einem eingefrorenen oder geklonten Körper versehene und damit potentiell unsterblich werdende und das Weltall bevölkernde und damit Gott gleiche Mensch. Hararis Konzentrat aus den siliziumgetränkten Träumen aus dem Silicon Valley war arg gruselig, aber doch irgendwie vertraut, schon deshalb, weil alles, was nicht westliche Welt ist, eigentlich keine Rolle bei dieser Dystopie spielt. Deshalb, und weil der weiße Umschlag mit den goldenen Lettern so schön war, machte das Buch seinen Weg um die Welt – am Ende freilich entlässt Harari den Leser mit einer etwas verschwurbelten Variante des Satzes: Ob es so kommt, weiß ich doch auch nicht.
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„Die Entfesselung der Technik“, so schrieb es ungefähr zu Beginn des Computerzeitalters der französische Anthropologe André Leroi-Gourhan, führe „zweifellos zu einer Verminderung der technischen Freiheit des einzelnen“. In der Gattungsgeschichte sei, vom Australoanthropus bis zur Mechanisierung, das operative Verhalten der Individuen immer reicher geworden. Aber mit der Exteriorisierung, also mit der Steigerung und Verlagerung tendenziell aller menschlichen Organe und Fähigkeiten in Maschinen, Maschinensysteme und Computer finde die menschliche Gesellschaft…
„…zur Organisation der perfektesten Tiergesellschaften zurück, jener Gesellschaften, in denen das Individuum nur als Zelle existiert. […] Zelle in einem Organismus, der vielleicht sogar – und höchst bewundernswert – planetarische Ausmaße gewonnen hat. […] Daß man Holz in eine Maschine eingeben kann, ohne sich weiter um etwas kümmern zu müssen, und am Ende ein Standardparkettbrett herauskommt, das dann automatisch verpackt wird, bedeutet zweifellos einen sehr wichtigen gesellschaftlichen Gewinn, es läßt dem Menschen aber keine andere Möglichkeit, als darauf zu verzichten, ein homo sapiens zu bleiben, um irgend etwas Anderes zu werden. So müssen wir also“
…so schrieb der Anthropologe im Jahr 1964 …
„…einen völlig transponierten homo sapiens in Auge fassen, und es scheint, als stünden wir heute vor den letzten freien Beziehungen, die der Mensch mit seiner natürlichen Umwelt unterhält. Befreit von seinen Werkzeugen, seinen Gesten und Muskeln, von der Programmierung seiner Handlungen und seines Gedächtnisses, befreit von der Phantasie, an deren Stelle die Perfektion des Fernsehens getreten ist, befreit auch von der Tier- und Pflanzenwelt, vom Wind, von der Kälte, den Mikroben und dem Unbekannten der Gebirge und Meere, steht homo sapiens wahrscheinlich am Ende seiner Laufbahn. […] Wie soll dieses veraltete Säugetier mit den archaischen Bedürfnissen, die einst die Triebkraft seines Aufstiegs bildeten, weiterhin seinen Stein den Berg hinauf rollen, wenn ihm eines Tages nur noch das Bild seiner Wirklichkeit bleibt? […] Dennoch gibt es auf dem zurückgelegten Weg kein Zurück. […] Es wäre wider die Natur, wenn wir gar kein Vertrauen mehr in ihn setzten, aber die Phantasie tut sich schwer.“
Die Evolution des Menschen, das ist die Geschichte, in der die Gemeinschaft und der Apparat immer perfekter werden, aber der einzelne schrumpft. So lesen wir es, in den kulturkritischen Schriften der Fünfziger und Sechziger Jahre, ob nun von Günter Anders, eher links, oder Friedrich Georg Jünger, eher konservativ. Und dessen Bruder, Ernst Jünger, notiert melancholisch:
„Menschliche Vollkommenheit und technische Perfektion sind nicht zu vereinbaren. Wir müssen, wenn wir die eine wollen, die andere zum Opfer bringen.“
Die fossile Gesellschaft und die Synthese von Wissenschaft, Technik und Produktion habe sich, so schreibt es Arnold Gehlen 1961, über den Erdball verbreitet:
„Und damit ist schon angedeutet, wohin die Reise in irgendeinem der kommenden Jahrhunderte führt: zu einer uns noch nicht vorstellbaren Form der Erdregierung und Erdverwaltung.“
In den lakonischen Worten André Leroi-Gourhans:
„Das Halsband ist der Preis für die Freiheit gegenüber der natürlichen Umwelt.“
Fatalistischer Techno-Determinismus – Hier verlasse ich die Ebene der Großgedanken der Großdenker unserer Großvätergeneration, auch wenn deren nüchterne Trauer ziemlich genau den Punkt bezeichnet, an dem wir immer noch stehen. Aber ich denke, sowohl die individualisierende Betrachtung Hararis, der die Zukunft in der chemischen, digitalen und gentechnischen Aufrüstung der Einzelexemplare sieht, wie auch die melancholisch-heroischen Zukunftsbilder der Anthropologen, die Abschied nehmen vom humanistischen Ideal des allseits gebildeten Individuums, und eine Art Ameisenstaat an den Horizont malen – ich denke, beide Bilder verdanken sich dem entschlossenen Willen, in unübersichtlichen Zeiten zu einem konturierten Zukunftsbild zu kommen.
Beide Sichtweisen aber sind verbunden in dem Gedanken, dass die Technik einer eigenen, von niemandem zu steuernden, weil tief im Menschen verankerten Logik folgt. Und dieser fatalistische Techno-Determinismus ist nicht unähnlich dem Fatalismus der Computer-Nerds aus Kalifornien, die auf ihren Konferenzen PR-bewusst das Kommen einer Superintelligenz beschwören, einer künstlichen Intelligenz, die alles Wissen der Welt und alle Fähigkeiten der Menschheit in sich vereint, schließlich Bewusstsein gewinnen kann und daraufhin nicht mehr zu kontrollieren sei – weswegen sie sich auf den Exodus auf andere Planeten oder Galaxien vorbereiten. Allen Ernstes?
Science-Fiction hin, Bedrohung her – in allen drei Evolutionsszenarien steckt das Bild eines homo sapiens, der es nicht gewesen sein will und deshalb seinen Willen an die zwangsläufige Entwicklung der Technik delegierte. Und alle drei blenden den ökonomischen Treibstoff dieser Entwicklung aus: den Zwang des Kapitals, sich zu vermehren. Das Resultat einer solchen „Biologisierung“ der Technikentwicklung ist dann der Grusel vorm Übermorgen statt des Blicks auf das nächste Jahrzehnt, das starre Bild einer fernen Zukunft statt eines Blickes auf das historisch wechselnde Verhältnis von Individuum und Gattung.
„Das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“
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Die These von Marx und Engels zieht die Konsequenz aus der Tatsache der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, durch die alle Mitglieder einer Gesellschaft voneinander abhängen. Es gibt deshalb, so schreiben die Juristen Jens Kersten und Richard Giesen in ihrer Abhandlung über die „Arbeit 4.0“:
„in der kulturtechnischen Evolution des Verhältnisses von Mensch und Maschine keine für allemal feststehende anthropologische Konstante. Auch in der digitalisierten Arbeits- und Lebenswelt ist das Verhältnis von Menschen und Maschinen im Fluss. Dementsprechend lässt sich auch kein unverrückbares ‚Wesen‘ des Menschen ausfindig machen, an dem sich dessen Verhältnis zu Maschinen bestimmen und sodann schlicht ins Rechtliche ‚übersetzen‘ lässt. Vielmehr kommt es […] darauf an, die Entfaltung des Menschen in der digitalisierten Arbeits- und Lebenswelt rechtlich zu begleiten, um neue Individualisierungschancen und Solidaritätspotenziale zu entdecken. Den verfassungsrechtlichen Ansatzpunkt hierfür bildet die Menschenwürdegarantie des Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie soll gewährleisten, dass wir uns auch in der Digitalisierung als Subjekte begreifen können.“
Gewerkschaften brauchen neue Strategien – Jens Kersten und Richard Giesen suchen in ihrer Studie nach neuen rechtlichen Formen und Verfahrensregeln im Umgang mit Phänomenen der digitalen Arbeit. Gesundheitsschutz, Arbeitszeitregelungen und Mitbestimmung dürfen nicht aufgegeben, müssen deshalb rechtlich geregelt werden. Aber die Regeln der alten Ökonomie passen nicht auf die Gegebenheiten von Crowd- und Clickwork, auf die neue Heimarbeit oder scheinselbstständige Tätigkeiten. Die Autoren fragen, wie die Verschränkung von Privatleben und Arbeit rechtlich zu regeln sei, welche Probleme es bei der Sozialversicherung gibt, ob die digitale Arbeit nicht einen veränderten Betriebsbegriff erfordere und fragen weiter, wie Arbeitskämpfe gegen ein Unternehmen aussehen könnten, das keinen „Betrieb“ mehr bildet, weil seine Mitarbeiter dezentral an hunderten von Orten arbeiten, keine formelle Anstellung haben und deshalb schwer zu mobilisieren sind. Die juristische Abhandlung ist spannend zu lesen, auch wegen der Einzelheiten – so erfahre ich, dass das oberste deutsche Arbeitsgericht den flashmob, die Blockierung eines Unternehmens durch eine schwarmförmige Versammlung auch von Betriebsfremden, schon 2009 legalisiert hat. Wichtig ist die juristische Abhandlung aber vor allem deshalb, weil neuartige Phänomene in der Gesellschaft erst dann akzeptiert sind, wenn sie in Gesetzgebung und Rechtsprechung einen Platz gefunden haben.
Nicht nur die Juristen müssen ihre Begriffe überprüfen. Auch für Gewerkschaften ist es hohe Zeit, Strategien zu finden, mit denen die neuen Arbeitnehmer Rechte erkämpfen und Interessen vertreten können. Die Defensive wird da nicht reichen. Und schon gar nicht, wenn man das Menschenwürdepostulat des Artikel 1 mit dem Blick auf die europäische Geschichte von Technik und Freiheit ernst nimmt. Dann geht es nicht nur, und nicht einmal primär, um den Schutz vor Digitalisierung und Automation, um ihre Begrenzung, sondern dann wäre ihre Beschleunigung zur fordern.
Statt mit Betriebsräten die Automatisierung zu blockieren oder gegen Betriebsschließungen zu protestieren, sollten Gewerkschaften die „letzte Metamorphose der Arbeit“ betreiben und für die vollständige Automatisierung, für eine radikale Arbeitszeitverkürzung und ein neues Arbeitsethos kämpfen. Es gehe, so die These der sogenannten Akzelerationisten, der Beschleuniger also, es gehe nicht so sehr darum, den Kapitalismus abzuschaffen, sondern ihn zu beschleunigen, ihn zu zwingen, seine historische Mission, die Entwicklung der Produktivkräfte, bis ans Ende zu erfüllen. Oder mit den paradoxen Worten von Dietmar Dath: Es geht darum, die „Maschinenstürmerei“ des Kapitals zu beenden, die den technischen Fortschritt nur als abhängige Variable der Geldvermehrung zulässt.
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Warum also sitzen immer noch Kassiererinnen an den Supermarktkassen? Rennen menschliche Roboter durch die Lagerhallen? Füllen kluge Menschen langweilige Tabellen aus? Weil die volle Automatisierung sich nicht rechnet. Technisch gesehen könnte sie an vielen Stellen beschleunigt werden; und humanistisch gesehen könnten dadurch die Menschen Zeit gewinnen, und sich dem widmen, was mit Geld nicht mehr zu bezahlen ist: der Erziehung, der Pflege, der Natur, den Künsten, der Politik, der Freude am Leben. Die neuerliche Forderung der IG Metall nach Einführung der Viertagewoche ist wieder einmal ein kleiner Schritt auf dem kurvenreichen Pfad der Zivilisation.
Was im homo sapiens steckt, das ist aber noch nicht einmal ansatzweise entwickelt. Und eine Gewerkschaftsbewegung, die nicht nur defensiv sein, sondern die begeistern will, die muss „eine Welt anstreben, die moderner ist, als der Kapitalismus es je erlauben würde“. So schreiben es die Sozialwissenschaftler Nick Srnicek und Alex Williams auf englisch-pragmatische Weise in ihrem Buch „Die Zukunft erfinden“. Damit knüpfen sie an die 2000 Jahre alte Tradition an, die in der Technik einen Weg zur Befreiung sah. Technik hat etwas mit Menschenwürde zu tun: Menschen sollten nur Arbeiten ausüben, die Maschinen nicht können.
Es gibt aber noch einen zweiten, ungleich größeren Grund, warum wir die Digitalisierung nicht über uns kommen lassen dürfen, sondern ihrer Gestaltung ebenso viel Aufmerksamkeit widmen müssen wie dem Klimawandel.
„Das künftige Schicksal der planetarischen Umwelt hängt massiv vom Fortgang der digitalen Revolution ab. […] Nur wenn es gelingt, die digitalen Umbrüche in Richtung Nachhaltigkeit auszurichten, kann die Wende hin zu einer nachhaltigen Welt gelingen. Digitalisierung droht ansonsten als Brandbeschleuniger von Wachstumsmustern, die die planetarischen Leitplanken durchbrechen.“
Mächtige Werkzeuge – So beginnt das 500 Seiten starke Gutachten „Unsere gemeinsame digitale Zukunft“, das im vergangenen Jahr der Wissenschaftliche Beirat globale Umweltveränderungen, kurz WBGU, der Bundesregierung übergeben hat. Es ist eine bis ins Einzelne gehende Agenda zur Gestaltung der Digitalen Wende. Das Gutachten denkt die beiden großen Entwicklungen der jüngsten Moderne, die globale Bedrohung der Lebensgrundlagen und die explosiven Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologie zusammen. Digitalisierung, so der Befund, werde trotz all der schönen Namen – smart home, smart cities, smart agriculture – überwiegend zur Steigerung des konventionellen Wachstums eingesetzt. Dabei sei sie das Große Werkzeug, das den Wandel im Naturverhältnis organisieren und beschleunigen könnte:
Bei der Dekarbonisierung, bei einer umweltschonenden Landwirtschaft, der effizienten Verwendung von Materie, beim Überwachen von Wäldern und Meeren, bei der Verbreitung eines globalen Bewusstseins – und nicht zuletzt, und immer als letztes genannt: bei der Entwicklung von Techniken und Infrastrukturen, die es gestatten, die ärmere Welt so zu entwickeln, dass dem Planeten nicht die Luft ausgeht.
Beobachtungssatelliten, intelligente Stromnetze, Vermarktungssysteme für regionales Wirtschaften, Monitore biologischer Vielfalt, Netzwerke für neue politische Partizipationsformen, Unterstützung von Bildungsprozessen, Techniken der medizinischen Selbstsorge, Apps, mit denen ich die Solidität von Nachrichten prüfen kann – in all diesen Bereichen sind Computer und Internet Werkzeuge, die so mächtig sind, dass wir auf ihren Einsatz nicht verzichten können – wenn wir, nun ja, nicht die Welt retten, aber doch ein Anthropozän gestalten wollen, in dem wir uns noch wiedererkennen können – als homines sapientes. Und das heißt auch: Alle Algorithmen sind politisch. Was also nottut – das legt die Lektüre dieses Berichts nahe – ist eine Ausrichtung der Digitalisierung an den Zielen des Klimawandels, des globalen Ausgleichs, der globalen Bewirtschaftung der Menschheitsressourcen. Das ist der große Auftrag dieses Jahrhunderts an Politik und Verwaltung.
Fast bin ich nun versucht, diesen Essay mit der etwas hochherzigen Hoffnung zu beschließen, die Gleichzeitigkeit von Klimakatastrophe und digitaler Revolution sei kein historischer Zufall, frei nach Hölderlins Dauerbrennerzitat: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Aber das letzte Wort soll GPT-2 haben. Ich gebe also ein:
„Es war ein nebliger Morgen im November. Ich saß an meinem Schreibtisch und war leicht gestresst, weil die Frist für meinen Aufsatz über Automatisierung bereits abgelaufen war.“
Und GPT-2 schreibt weiter:
„Mein Gehirn schaltete den Fernseher ein. Eine nette Journalistin sagte einige nette Dinge über die Innovationswirtschaft und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Dann erschien das D-Wort – das D-Wort. ‚Das D-Wort beginnt zu rutschen‘, hörte ich. Faul, dachte ich. Das ist nicht gut. Denn je öfter wir dieses Wort benutzen, desto mehr wird es Realität.“
Das D-Wort. Was meint der Algorithmus? Digitalisierung? Demokratie? Und was rutscht, und wer benutzt was und wie? Die Zukunft ist offen, aber … inzwischen gibt es übrigens GPT-3. Es ist hundertmal so leistungsfähig wie GPT-2.
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Wiederholung einer Sendung vom 22.11.2020
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Mathias Greffrath, Jahrgang 1945, ist Soziologe und Journalist. Er lebt in Berlin, arbeitet unter anderem für die taz, die ZEIT und den Rundfunk. In den letzten Jahren hat er sich in Essays, Hörspielen und Kommentaren mit den sozialen und kulturellen Auswirkungen von Globalisierung und Klimawandel beschäftigt.
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Barbara Schäfer, 52 hat am 15. Januar beim Deutschlandfunk (DLF) die Leitung der Abteilung ‘Feature/Hörspiel/Hintergrund Kultur’ übernommen.
Barbara Schäfer begann ihre Hörfunkarbeit beim alternativen Berliner Sender Radio 100. Danach war sie als Regie- und Redaktionsassistentin beim damaligen Sender Freies Berlin (SFB) tätig. Bei der WDR-Jugendwelle 1Live baute sie den Sendeplatz „Lauschangriff“ (heute „Soundstories“) mit auf, anschließend arbeitete sie zehn Jahre lang als Chefdramaturgin in der Abteilung ‘Hörspiel und Medienkunst’ des Bayerischen Rundfunks (BR). Außerdem führte sie Regie bei Hörspielproduktionen wie zum Beispiel „Last Words“ von William S. Burroughs und „wir schlafen nicht“ von Kathrin Röggla. Die letzten acht Jahre verantwortete sie das „Nachtstudio“ des BR, den Sendeplatz für Radioessays im Kulturprogramm Bayern 2.
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Dietmar Moews meint: Ich danke den Autoren beim Staatsfunk und hoffe, dass viele der Lichtgeschwindigkeits-Benutzer die DLF-Mediathek mit diesen Gedanken anhören.
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Weitere Marx, Engels, Adorno und sonstigen Kitsch kann man – ganz nach der Kunstregel: alles weglassen, was man weglassen kann – WEGLASSEN.
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